Wir mußten weiter. Echt Wahnsinn, was für eine Quälerei nun auf mich zukam. Der Anstieg war für mich im Grunde schon zu bewältigen, aber das Terrain war für meine Schuhe eine einzige Katastrophe.
Das ausgerechnet dieser Pfad zum Watzmannhaus mit einem so unebenen Boden gesegnet war, schöner Mist.
Baumwurzen und Felsbrocken vergewaltigten meine Treter und damit auch meine Fußknöchel so dermaßen, daß es eine elende Schinderei wurde.
Permanent knickte ich um, und manchmal hatte ich sogar das Gefühl, gleich rutsche ich aus dem Schuh raus.
Meine Füsse verkrampften und ermüdeten dadurch schnell. Und dazu noch diese Hitze, die hielt bis zum Watzmannhaus noch eine ganze Zeit an.
Natürlich hätten auch meine drei Mitstreiter ein ganz anderes Tempo vorlegen können, doch sie mußten wegen mir ständig ungewollt Pausen einlegen.
Ich kam oben am Watzmannhaus so erschöpft an, daß ich nichts mehr um mich herum wahr nahm.
Hatte ich doch tatsächlich daran gedacht erstmal den Schweiß abzuduschen. Pustekuchen.
Fairerweise muß ich zugeben, daß ich wohl zu den ganz wenigen gehöre, die mangels optimaler Vorbereitung auch davon nichts wußten.
Wasser ist hier oben richtig kostbar und wird nur als Trinkwasser an die Wanderer gereicht. Gletscherwasser fließt leider nicht am Watzmannhaus vorbei.
Doch selbst wenn es so wäre, dann würde ich gerne mal dabei zusehen wollen wie lange es jemand unter eiskaltem Wasser aushält.
Der Gedanke, heute Nacht so verschwitzt in`s Nachtlager zu steigen, stimmte mich nicht unbedingt fröhlicher.
Die ersten Minuten brauchte ich um meine Pumpe wieder auf eine normale Taktzahl herunter zu regeln.
Ich weiß noch, wie meine Mitstreiter, sowie alle anderen ankommenden Wanderer, sogleich zu diesem Buch liefen um sich darin einzutragen.
Ich wurde ebenfalls dazu ermahnt mich dort einzutragen.
Total benommen sagte ich nur "Ja ja, mache ich noch". Hatte ich dann aber doch ganz vergessen.
Dann gab es da noch so einen Extraraum für die Wanderschuhe. Irgendwie ja schon klar, daß diese Muffeldinger den Schlafraum ganz schön vergasen können.
Aber der Schuhraum war auch eine echte Herausforderung. Als wenn ich gegen eine Wand renne, so heftig kroch mir übelster Gammelkäse in die Nase.
Völlig erschöpft setzte ich mich auf einen Felsvorsprung, etwas abseits vom Watzmannhaus, und sinierte über meine bisherige Tour, und was wohl noch auf mich zukommen wird.
Ich dachte auch über meine physische Kondition nach, bis hin zu meiner völlig unprofessionellen Ausrüstung.
Ich schaute auf meine Treter, da hätte ich auch gleich mit Strandlatschen los ziehen können.
Auf jeden Fall wäre allein mein Schuhwerk ein Grund gewesen das Ganze gleich zu canceln.
Aber auch ein optimal anliegender Rucksack ist in alpinen Gelände sicher nicht weniger wichtig, vielleicht sogar lebensnotwendig.
Denn gerade auf schmalen Graten, wo man trittsicher, schwindelfrei und mental in guter Verfassung sein sollte,
da kann ein herum schwingender Rucksack den Körperschwerpunkt leicht mal zu ungunsten verändern.
Das sollte man nicht unterschätzen, genausowenig wie man seine körperliche Verfassung überschätzen sollte.
Hat man sich dort oben nämlich erst einmal verschätzt, dann ist man womöglich schon ein Schritt zu weit gegangen.
Für so eine Tour muß man körperlich absolut fit sein. Das ist mir jetzt klar geworden.
Ein neuer Tag ist angebrochen und unser nächstes Etappenziel erhielt von der aufsteigenden Sonne einen himbeerfarbenen Anstrich.
Dieses fantasieanregende Farbenspiel ließ die vor mir liegenden Strapazen direkt ein wenig vergessen.
Und so wechselten meine Bedenken zu leichten Euphorieschüben, die alle irdischen Gedanken in weite Ferne rückten.
Wie automatisiert vollzog ich alle Abläufe, so wie alle anderen das ebenfalls machten. Ich hatte nur noch mich im Fokus.
Das Watzmannhaus verlassend, sah ich schon einige Wanderer verteilt auf dem Weg zum Hocheck an dem grauen Fels kleben.
Sahen aus wie kleine Preiser-Figuren auf einer Modelleisenbahn.
Den Weg vom Watzmannhaus bis zum Hocheck empfand ich eigentlich als gar nicht mal mehr so schwierig zu meistern. Klar, drei Stunden sind kein Pappenstiel.
Doch diese drei Stunden, wie uns die gelben Hinweisschilder als zeitliche Orientierung anzeigten, bedeuteten für mich schon mal locker vier Stunden.
Denn es war meiner Kondition geschuldet, daß ich immer mal wieder kleine Pausen einlegen mußte.
Diese Hinweisschilder sind deshalb für ungeübte Wanderer auch gar nicht so blöd, denn so kann man sich sehr gut ausrechnen, wann man welchen Bezugspunkt,
also Hocheck, Mittelspitze oder sogar Südspitze, ungefähr erreichen kann.
Um so beispielsweise zu erkennen wo und wann man sich evtl. einen Zeitpunkt für den Rückweg setzt, so als Notfallplan.
Schon gleich zu Beginn des Anstiegs merkte ich, daß diese vergangene Nacht meinen Füssen nicht viel Erholung gebracht hat.
Und so liefen mir die anderen drei auch ständig davon. Wegen mir legten sie allerdings immer wieder einen Halt ein, damit ich wieder an sie heran kam.
Doch das war mir selbst direkt ein bißchen unangenehm, denn irgendwie mußte ich dauernd daran denken, daß ich ihnen vielleicht den Spaß ein wenig verderben würde.
So sagte ich ihnen etwa ab der Hälfte der Wegstrecke, daß sie ohne Rücksicht auf Verluste weiter gehen sollen, ich komme schon irgendwie klar und irgendwann da oben an.
Ich hatte nun mal mein Tempo, daran würde ich nichts ändern können.
Diese kleinen Zwangspausen meiner Lunge zuliebe, nutzte ich auch immer wieder gerne um mich umzuschauen und die grandiose Landschaft unter mir zu genießen.
Wenigtens meinen Augen konnte ich so ein bißchen sinnlichen Genuß bieten.
Teilweise verlief der Pfad auf losem Geröll, das war dann jedesmal ein Garant dafür wegzurutschen oder umzuknicken.
Auch das belastete meine Füsse natürlich zusätzlich sehr stark, so daß ich auch deshalb schon froh war wenigstens das Hocheck zu erreichen.
Am Gipfelkreuz des Hochecks angekommen war mir sofort klar, weiter wird es für mich heute nicht gehen.
Aber für mich war sowieso der Weg schon das eigentliche Ziel, und so genoß ich einfach nur das grandiose Panorama, das mir auf 360° Grad Rundumblick geboten wurde.
Ich zog zuerst mal meine Schuhe aus und setzte mich zu den Alpendohlen, die immer auf die Gastfreundschaft der Wanderer hofften um von derer Brotzeit ein bißchen abzubekommen.
Es war sehr schön diese Vögel akrobatisch durch die Lüfte fliegen zu sehen, sie machten den Anblick der ansonst so erstarrten Felsformationen etwas lebendiger.
Weiter als bis zum Hocheck wäre für mich also gar nicht drin gewesen.
Ich fühlte mich gar nicht so erschöpft, doch beim Anblick der anderen Wanderer und den vor mir liegenden Abgründen links und rechts des Pfades,
wurde mir klar, daß meine zermahlmten Schuhe mich in diesen Schwierigkeitsgraden nicht weiter tragen würden.
Mit besserem Schuhwerk wäre vielleicht noch was gegangen.
So genoß ich nun die Zeit, die mir hier oben blieb.
Mögen manchem diese Völkerwanderung ein Dorn im Auge sein, so ergeben sich doch immer wieder schöne Begegnungen mit Menschen.
Ich traf auf die unterschiedlichsten Menschen mit verschiedenster Ausrüstung und Voraussetzungen, die mir von ihren begeisternden Eindrücken berichteten.
Immer wieder trifft man kurzzeitig aufeinander und teilt das begeisternde Bergerlebnis dann gemeinsam.
In solchen erhabenen Momenten spricht man gerne davon, daß der Alltag weit weg erscheint, die kleinlichen Sorgen wie weggeblasen sind.
Wenn dann aber über einen der All-Inclusiv-Massentourismus gen Mittelmeer hinweg fegt, und seine Abschiedsgrüße in Form von Kondensstreifen hinter sich her zieht,
so als würden sie ihren Müll achtlos aus dem Bordfenster werfen, dann ist dieses gerade angesprochene "erhabene" Gefühl doch schnell wieder verflogen.
Da könnte ich auch gleich an irgendeinem Flughafen als Planespotter rumhängen, so staut sich das oben am Himmel. Schon irgendwie schade.
Doch auch der heutige Smartphone-Hype, der hier in der Natur unermüdlich fortgesetzt wird, erzeugt ein recht zwiespältiges Gefühl in mir.
Beim Abstieg zum Watzmannhaus schaffte ich dann tatsächlich noch ein paar Purzelbäume, die zum Glück glimpflich ausgingen.
Dadurch lernte ich aber die Trekkingstöcke besonders beim Abstieg sehr zu schätzen. Die gaben mir mehr Halt als ich erwartet hätte.
Mein müder Körper hatte ständig so einen Hang nach vorne über zu fallen, und so stützte ich mich mit diesen Stöcken gegen die Schwerkraft ab.
Wie schon erwähnt, stand ich mit meinem Wissen über einen Aufstieg zum Watzmann, aber auch zur alpinen Kletterei überhaupt, ziemlich im Dunkeln.
Dachte ich doch tatsächlich die ganze Zeit während unserer gesamten Tour, es gäbe da nur einen einzigen Watzmanngipel.
Heute kann ich selbst darüber schmunzeln, denn da ich nicht weiter als bis zum Hocheck kam,
hatte ich noch Tage danach gedacht, Mist, jetzt hast es trotz dieser Strapazen nicht mal auf den Watzmann geschafft.
Daß das Hocheck ebenfalls zum Watzmannmassiv gehörte wurde mir erst Tage später durch meinen Gastgeber gewahr:
". . . natürlich warst Du auf dem Watzmann! Das Hocheck ist doch schon der Watzmann". Ach echt?, gab ich ganz verduzt von mir.
Klar denkt jetzt mancher, der will uns hier nur auf den Arm nehmen.
Tatsache ist aber, daß wir im Team nie davon gesprochen haben auf dem Watzmann gewesen zu sein. Nur vom Hocheck war immer die Rede.
Respektvoll schaute ich den Mutigen mit ihrer guten alpiner Ausrüstung hinterher. Wie sie sich auf dem Grat entlang der Mittelspitze zu bewegten.
Wehmut stieg in mir auf, und auch ein bißchen neidisch war ich auf die Verrückten, die an mir vorbei schreiteten. Aber gleichzeitig spürte ich auch Ehrfurcht vor dieser alpinen Gebirgswelt.
Weder, das es da so eine Art Überquerung gibt auf der man drei verschiedene Gipfel erklimmen konnte, noch von den Zeiten, die wir für so einen Aufstieg benötigen würden, hatte ich eine Vorstellung.
Ich vergaß zu sagen, daß meine drei Begleiter vorbildlich ausgerüstet waren. Also die hätten schon noch weiter kommen können.
Wir haben uns eigentlich auch während der Tour wenig unterhalten. Das hatte natürlich auch mit meinem langsamen und mühsamen Schritten zu tun gehabt. Ich hinkte immer hinterher.
Währenddessen wurde mir auch erst bewußt, daß ich bei dem ganzen Vorbereitungsstreß meinen Geldbeutel vergessen hatte.
Ach, so ein Mist, dachte ich noch, nun muß ich auch noch um Geld betteln. Immerhin waren meine Mitstreiter ja total Fremde für mich.
Schon auf halben Wege zum Watzmannhaus wurde mir klar, daß ich für die Drei die totale Spaßbremse sein müßte.
Da war zum Einen meine Kondition, die war auch nicht gerade zum Besten bestellt, und dann meine Füsse, die ich regelrecht folterte.
Diese Kombination ließ mich ständig Stöhnen und Fluchen.
Gleichzeitg waren meine Lungen so sehr am Ächzen, daß sich immer mal wieder einer von den Dreien umgedreht hat und nachfragte ob ich etwas gesagt hätte.
Heute kann ich aber auch sagen, daß sie selbst ein bißchen schuld daran sind, daß sie mich mitgenommen haben.
Heute denke ich, das mit meinen Schuhen hätte auf jeden Fall kommuniziert werden müssen.
Auf der anderen Seite bin ich natürlich heute froh, daß ich dort oben war. Es hat mir für vieles die Augen geöffnet.
Vor allem den Wunsch erweckt, die Watzmannbesteigung noch einmal erfolgreicher zu beenden.
Natürlich dann mit besserer Ausrüstung, damit ich es wenigstens bis zur Mittelspitze schaffe.
Vielleicht wird es für mich irgendwann eine Fortsetzung in Form einer Gesamtüberquerung des Watzmannmassivs geben!
Irgendwie reizt mich das schon. Und gleichzeitig habe ich mir damit auch ein sehr schönes Ziel für die Zukunft gesetzt.
Zu meinem letzten Satz fällt mir doch glatt noch ein letzterer Satz ein:
es gibt kaum eine größere Enttäuschung, als wenn du mit großer Begeisterung auf desinteressierte Menschen triffst!